Resilienz in Zeiten globaler Unsicherheit

Nach der Krise ist vor der Krise

Zu den größten menschlichen Fähigkeiten zählt sicher das Lernen. Lernen aus Krisen, aus Fehlern oder veränderten Rahmenbedingungen. Aber nicht immer nutzen wir diese geniale Gabe und machen weiter wie bisher. „Wenn das, was wir tun, nicht zum Ziel führt, verdoppeln die Menschen ihre Anstrengung“, sagt der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick und nennt es „Das Mehr Desselben-Konzept“. In der Vergangenheit hat das sogar funktioniert, manchmal, mehr oder weniger. Doch die Krisen kommen häufiger und intensiver, unsere kollektive Widerstandsfähigkeit, die sogenannte Resilienz, ist mehr gefragt denn je. Unser persönliches, menschliches Immunsystem braucht viele positive Impulse, wie vitalstoffreiches Essen, Bewegung, Mikroorganismen, Ruhe und Gemeinschaft, erst dann kann es uns rundum schützen. Gemeinsam können wir unser gesellschaftliches Immunsystem stärken und zukunftsfähig gestalten. Es ist an der Zeit, Neues zu lernen und es auch zu tun, daran will unsere Stiftung zusammen mit Ihnen arbeiten.

Zurzeit entstehen in der Nordpfalz Zukunftsdörfer, um der allgemeinen Landflucht lebenswerte Räume entgegenzusetzen, die den Mann und die Frau ernähren. Stadt und Land können eine neue Symbiose eingehen und flexible Möglichkeiten anstelle starrer Entweder-oder-Strukturen entwickeln. Obst und Gemüse sind unsere Grundnahrungsmittel, aber nur 20 Prozent von dem, was wir essen, kommt aus Deutschland. Obwohl Boden und Klima beste Voraussetzungen bieten, uns fast ganzjährig autark zu versorgen, wenn wir es denn nur wollen. Ein neues Mikrofarming-Projekt am Hengstbacherhof mit biointensiver Gemüsewirtschaft wird mit den Ernteerträgen viele Menschen in der Region versorgen.

Persönliches und gesellschaftliches Immunsystem stärken
Der einzelne Mensch und wir als Gesellschaft sind sehr verletzlich in unserer Gesundheit, unserer Versorgung und Sicherheit und in unserer Verwurzelung auf diesem Planeten. Das haben wir zu Beginn dieses Jahres wieder einmal mit Nachdruck erlebt, als das Coronavirus sich in Windeseile über die gesamte Erde verbreitet und unser alltägliches Leben lahmgelegt hat. Bei akuter Gefahr reagieren wir prompt und fokussieren auf ein Thema, so werden ungeheure Energien frei und „Berge versetzt“, das ist gelebte Resilienz*. Diese menschliche Fähigkeit ist ebenso beeindruckend wie unsere „Vergesslichkeit“, sobald eine Gefahr abgeklungen ist. Und wenn das gleiche Thema und eine ähnliche Gefahr Monate oder Jahre später wieder auftauchen, fragen wir uns, wieso wir denn in der Zwischenzeit nichts Grundlegendes verändert haben.

Zukunftsfähig nennen wir die Arbeit unserer Stiftung Lebensraum und meinen damit, unser heutiges Wirtschaften, Wohnen, Essen und Leben in unsicheren Zeiten widerstandsfähiger zu gestalten, damit wir selbst, unsere Kinder und auch unsere Enkel gut auf dieser einen Erde leben können. Diese Widerstandsfähigkeit, auch Resilienz genannt, braucht es in vielen verschiedenen Bereichen und je mehr Felder ein gutes, vitales Immunsystem entwickeln, umso robuster zeigt sich unser gesamtes Lebensnetz gegenüber den vielen alten und neuen Herausforderungen. Einige Resilienzfelder stellen wir hier exemplarisch vor.

Zukunftsdörfer
In der Stadt wird es immer voller, auf dem Land immer leerer und das Gleichgewicht zwischen beiden fragil. Dabei brauchen Stadt und Land einander, sie bilden die zwei Seiten der gleichen Medaille. Das Konzept der Zukunftsdörfer stärkt Stadt und Land, Bürger schaffen aus eigener Initiative und oft mit eigenem Geld Gesundheitshäuser, Solar- und Windparks, Mehrgenerationenwohnen, Handwerksbetriebe oder Gemeinschaftsgärten. So wird der ländliche Raum attraktiv für junge Familien, Kleinunternehmer und Kreative, die Umsetzung erfolgt häufig bürgerschaftlich in Genossenschaften, Stiftungen, Vereinen oder losen Zusammenschlüssen. „Zwei Tage in der Stadt arbeiten und drei Tage auf dem Land“, flexible Formen eröffnen neue Möglichkeiten. So bleiben die Dörfer in Zukunft lebendig und die Städte bilden an ihren Rändern nicht nur „Speckgürtel“, sondern auch stadtnahe „Olympische Ringe der Zusammenarbeit“, die Lebensmittel, Manufakturwaren, kreative Ideen und kluge Köpfe für die Ballungszentren stellen.

Landwirtschaft
Deutschland ist vielleicht nicht von der Sonne, aber auf jeden Fall vom Klima verwöhnt, gemäßigte Temperaturen, ausreichend Regen und fruchtbarer Boden. Wie kann es da sein, dass nur ein Fünftel von dem Gemüse und Obst, das wir essen, aus dem eigenen Land kommen und wir gleichzeitig Millionen Schweine nach China exportieren? Wir arbeiten für eine regenerative Landwirtschaft, die Boden gut macht, fruchtbar und artenreich und damit widerstandsfähig bei Starkregen, Hitze und trockenen Winden. Die Humus-Initiative sichert die wirtschaftliche Grundlage für diese gesellschaftlich wichtige Klimadienstleistung der Bauern, damit die fruchtbaren Böden in Europa noch lange unser tägliches Brot und vieles mehr erbringen können. In einer regionalen Kreislaufwirtschaft können Produzenten und Verbraucher wieder enger zusammenfinden und sich im Hofladen, auf dem Markt oder in der Solidarischen Landwirtschaft persönlich begegnen. Saisonal, regional und fair, unsere Ernährung können wir ganz einfach wetterfest und krisensicher machenohne auf den Genuss von Früchten wie Kaffee, Bananen oder Reis, die wirklich aus anderen Ländern stammen, verzichten zu müssen.

„Alles ist Wechselwirkung – und alles hängt mit allem zusammen“.  
Alexander von Humboldt, Universalgenie und erster Klimaschützer (1769 – 1859)

Ressourcen
Die Energiewende zeigt bei allen Schwierigkeiten eindrucksvoll, wie schnell hier im Land eine Infrastruktur für erneuerbaren Strom wachsen konnte, oft dezentral und von Bürgern oder Kommunen finanziert. Mit einem intelligenten Stoffstrommanagement können wir das ähnlich in vielen Bereichen umsetzen, etwa bei der Schmutzwasseraufbereitung. Schon heute können unsere teuren und energieintensiven Kläranlagen das Abwasser kaum noch reinigen und die Gewinnung von sauberem Trinkwasser wird schwieriger. Dezentrale Pflanzenkläranlagen bringen bessere Ergebnisse und sie führen zusätzlich die großen Nährstoffmengen im Abwasser wieder auf die Felder zurück, gereinigt und veredelt, etwa in Form von Terra Preta. In einer Wegwerfgesellschaft können Repair-Cafes, Second-Hand-Konzepte und ein umfassendes dezentrales Recycling unserer Stoffströme den Blick für eine optimale Verwertung von knappen Ressourcen schärfen. Ein achtsamer Umgang mit endlichen Rohstoffen, in Kreislaufprozessen wiederverwertbar organisiert, trägt darüber hinaus zur lokalen Wertschöpfung und zur Stärkung der regionalen Resilienz in nachhaltig gestalteten Lebensräumen bei.

Nutzen wir unsere wichtigste menschliche Fähigkeit und lernen gemeinsam aus den Erfahrungen. Und Lernen heißt immer auch ins Handeln kommen. In unserer Stiftung sind Ihre Fragen, Ihre Ideen und Ihre Unterstützung willkommen.

Hengstbacherhof, im April 2020
Der Vorstand der Stiftung Lebensraum

 

*Resilienz
Resilienz, von lateinisch resilire „zurückspringen, abprallen“ wird oft synonym mit Widerstandskraft verwendet und bildet den Gegenpol zur Vulnerabilität, also der Verwundbarkeit. Das Wort wird heute in vielen Zusammenhängen verwendet und umschreibt die Fähigkeit von Gesellschaften, Störungen und Unvorhergesehenes zu verkraften oder auszugleichen. In technischen Systemen bedeutet Resilienz, dass sie bei einem Teilausfall nicht vollständig versagen, etwa die Ausfallsicherheit im Stromnetz. In der Psychologie ist es die Fähigkeit von Menschen, nach traumatischen Ereignissen wie Krieg, Unfall oder plötzlicher Armut dennoch weiterzuleben und „wieder auf die Beine zu kommen“.